Die Sendung konnte nur rudimentär aufzeigen, dass es sich bei “Cancel-Klagen” um ein veritables Problem handelt. Die Grenzbestimmung zwischen rechtsmissbräuchlichen Klagen und legitimer Rechtsvertretung misslang vollständig, da anstatt des Inhalts der Klage die politische Ausrichtung sowie finanzielle Stärke des Klägers zum Gradmesser für Schikaneklagen herhalten mussten. Besonders deutlich wurde dies am Ende der Sendung, als Böhmermann Richter und Anwälte staatstragend dazu aufforderte, sie sollten “mit unverstelltem Blick” unterscheiden, ob eine Person berechtigt klagt oder versucht, “Justiz und Rechtsstaat zu missbrauchen um unsere freie und demokratische Gesellschaft zu zersägen”.

Wie stellt sich Böhmermann das vor? Sollen Gerichte in Zukunft Klagen ablehnen, weil ein Rechtsextremer klagt? Vor der Klageeinreichung ab zum “Demokratie-Check”? Nicht nur unter rechtsstaatlichen Aspekten ein unsinniger Appell. Wenn Richter einer Klage stattgeben, dann im Regelfall aus guten Gründen, weil etwa unwahre Tatsachenbehauptungen verbreitet wurden. Das ist nicht nur gut für das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, sondern für den gesellschaftlichen Diskurs insgesamt. Denn wenn Rechtsextreme nicht gegen denkbare Falschmeldungen vorgehen dürften, würde letztlich das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Medien insgesamt erodieren, mit der Folge, dass die Menschen zutreffender Berichterstattung über Rechtsextremismus keinen oder weniger Glauben schenken würden.

  • flora_explora@beehaw.org
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    1 year ago

    Der Punkt ist doch, dass du dich bisher nicht wirklich inhaltlich auf die Folge bezogen hast, sondern vor allem Böhmermann zu diskreditieren versuchst (um dann nicht mehr inhaltlich auf die Folge eingehen zu müssen). Das ist dann ein ad hominem Argument.

    Aber generell haben wir wohl auch sehr verschiedene Ausgangspunkte, da du cancel culture als tatsächliche Praxis siehst und ich nur als Scheinargument von rechten/konservativen Menschen, sich um die Auseinandersetzung mit ihren Privilegien zu drücken und progressive Stimmen zu unterdrücken. Ich fand die Folge von dem NMR besonders gut, weil sie eben die sonst so geframete cancel culture komplett ignoriert haben und stattdessen aufgezeigt haben, inwiefern rechte, mächtige Personen eben andere mundtot machen, die an ihnen Kritik üben.

    Denn genau darum geht es. In einer progressiven Gesellschaft sollten wir alle aneinander konstruktive Kritik üben können und daran gemeinsam wachsen. Wenn Leute den diskriminierenden Sprachgebrauch, marginalisierende Gesetze, gewalttätigen Umgang anprangern, dann ist das ein Versuch, die Gesellschaft für alle besser zu machen. Aber da wir in einer Gesellschaft voller Hierarchien und Machtgefälle leben, stößt das oft auf taube Ohren. Ich glaube die imaginierte cancel culture kommt dort ins Spiel, wo die unterdrückende Klasse sich mit marginalisierten Positionen auseinandersetzen muss und sich dann keine andere Motivation von marginalisierten Menschen vorstellen kann, als dass sie die an der Macht genauso unterdrücken würden, wenn sie nur könnten. Aber das ist natürlich ein Fehlschluss, denn es geht bei progressiver Kritik am bestehenden system nicht darum, andere zu unterdrücken. Es geht darum, wie wir möglichst allen Menschen gerecht werden können. Aber das ist wahrscheinlich schwer für Leute an der Macht sich das vorstellen zu können, weil aus ihrer Sicht gibt es ja nur das Streben nach Machterhalt und Konkurrenz. Wenn gefordert wird, z.B. nicht mehr das N Wort zu sagen oder Toiletten zu entgendern, dann geht es nicht darum, die macht auszuüben, dass durchzusetzen. Dann geht es darum, dass Leute unter dem bestehenden System leiden und eine bessere Lösung für alle gefunden werden muss. Und natürlich wird das auch einschließen, dass sich privilegierte Menschen, die sich noch nie mit der Position von marginalisierten Menschen auseinandersetzen mussten, dann auch ihren eigenen Machtmissbrauch erkennen müssen und ihr Verhalten insofern anpassen müssen, dass sie andere nicht weiter gesellschaftlich ausschließlich oder anderweitig Gewalt ausüben.