Kommentar von Christian Stöcker, Kognitionspsychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang Digitale Kommunikation. Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE.–
Je länger manche Politiker von Steuergeldern leben, desto aggressiver fordern sie andere zu mehr Fleiß auf, zum Beispiel Christian Lindner, Markus Söder und Jens Spahn. Woran liegt das?
Bei Christian Lindner liegt die Zeit, in der er so etwas wie einer wirtschaftlichen Erwerbsarbeit im engeren Sinne nachgegangen ist, ziemlich lang zurück. Lindner wurde mit 21 Jahren Abgeordneter, lebt seitdem also von Steuergeldern. Und gelegentlichen Honoraren, etwa von Banken.
Kurz vor seiner Wahl zum Abgeordneten war er vorübergehend Geschäftsführer einer von ihm selbst mitgegründeten Firma für die »Entwicklung und das Design komplexer Software-Lösungen, insbesondere für die mobile Kommunikation«. Die entließ ihn zuerst und ging dann pleite. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die deutsche Förderbank also, die im Auftrag des Bundes und der Länder agiert, verlor dabei 1,2 Millionen Euro
Das mutet dann doch seltsam an
Markus Söder wiederum ging im Jahr 1994 zum letzten Mal einer geregelten Erwerbsarbeit nach, er arbeitete als Redakteur beim Bayerischen Rundfunk, wenn auch nur für etwa ein Jahr. Seit dreißig Jahren ist Söder Berufspolitiker.
Daran ist nichts Verwerfliches, irgendjemand muss den durchaus nicht ausschließlich attraktiven Job »Abgeordneter« ja machen. Und natürlich müssen gewählte Volksvertreterinnen und -vertreter von ihrem Einkommen leben können und im Idealfall genug verdienen, um nicht allzu anfällig für Bestechung zu sein. Ich persönlich habe schon von Berufs wegen nichts gegen steuerfinanzierte Anstellungen. Es gibt Aufgaben, die muss der Staat eben übernehmen.
Dass aber Menschen, die zum Bruttoinlandsprodukt in ihrem ganzen Leben praktisch nichts beigetragen haben, als Steuergelder zu beziehen und auszugeben, ihren eigenen Arbeitgebern – den Steuerzahlern – ständig erklären, dass sie gefälligst mehr arbeiten sollen, dem Gemeinwohl zuliebe, mutet doch etwas seltsam an.
»Wir müssen wieder mehr arbeiten«, sagt Markus Söder immer wieder. Mit »wir« meint er in Wirklichkeit: »ihr«. 2023 monierte die bayerische SPD , Söder bekomme Tausende Euro »fürs Blaumachen«, weil er bei nur 5 von 30 Landtagssitzungen anwesend gewesen war. Zur Erinnerung: Söder ist in Bayern Ministerpräsident.
Lindner sieht ein »Defizit«
Auch Christian Lindner wiederholt permanent, dass die Deutschen zu faul seien: Es existiere ein »Defizit an geleisteten Arbeitsstunden im Jahr«, die Deutschen sollten mehr arbeiten, und zwar zum Wohle der Nation : »Wenn Menschen arbeiten oder mehr arbeiten, zahlen sie schließlich höhere Steuern und Sozialabgaben und beziehen weniger soziale Transfers.«
Der Parteivorsitzende der sogenannten Liberalen fordert von deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern also, gefälligst mehr zu arbeiten, damit sie anschließend mehr Steuern zahlen können. Gleichzeitig verweigert die FDP jede Art von Steuererhöhungen etwa für sehr reiche Menschen, die primär von Kapitalerträgen leben, höhere Erbschaftssteuern und so weiter. Das Vermögen von Menschen, die nicht arbeiten, ist der FDP heilig. Manchmal tragen die Risiken auch andere
Dabei könnte der Staat mit ein paar Änderungen, die nur »Hochvermögende« beträfen, seine Einnahmen um 100 Milliarden Euro steigern, sagt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).
Pro Jahr stehlen Umsatzsteuerbetrüger zudem geschätzte 20 Milliarden Euro aus der Staatskasse . Es wäre Lindners Job, das zu unterbinden – passiert ist leider nichts. Dazu kommen Einbußen durch Steuervermeidung und Steuerhinterziehung, manche Fachleute gehen von 50 Milliarden Euro pro Jahr aus , andere von 125 Milliarden . Appelle gegen Steuerhinterziehung liest man vom Finanzminister aber weit seltener als Beschwerden über die vermeintliche Faulheit der Deutschen.
Dieser hier ist von dieser Woche: »Wertschöpfung und Wachstum kommen von Arbeit, Leistungsbereitschaft und der Bereitschaft, unternehmerische Risiken zu tragen.« Manchmal tragen die Risiken auch andere, zum Beispiel die KfW.
Mutmaßlich Milliarden verschwendet
Auch der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn ist sehr unzufrieden mit dem Fleiß seiner Arbeitgeber. Kürzlich verkündete er, Helmut Kohl habe in den Neunzigern ja mal vom »Freizeitpark Deutschland« gesprochen, um dann zu ergänzen : »Wenn ich mich umschaue, halte ich den Begriff zur Beschreibung unserer Probleme nicht für komplett abwegig.« In den Neunziger entstand übrigens auch der Begriff »Politikverdrossenheit«.
Jens Spahn ist in seinem Leben genau ein Jahr einer nicht steuerfinanzierten Beschäftigung nachgegangen, nämlich von 2001 bis 2002. Seit 2002, damals war er 22 Jahre alt, lebt auch er von Steuergeldern (und gelegentlichen Immobiliengeschäften ). Mutmaßlich hat er auch noch mehrere Milliarden Steuergeld durch sehr dubiose Deals mit FFP2-Masken während der Pandemie verschwendet . Als Steuerzahler wünscht man sich ja doch eher, dass Minister lieber ihre Arbeit ordentlich machen, als andere ständig zum Arbeiten anzuhalten.
Seltsam sozialistisch, gar nicht liberal
Auch Arbeitgeberverbände finden, dass die Leute, die nicht das Kapital, sondern die Arbeit haben, sich gefälligst mehr anstrengen sollen. Auch Michael Hüther vom arbeitgeberfinanzierten Institut der deutschen Wirtschaft klagt über den »unrealistischen Traum der Viertagewoche«. Die Industrie- und Handelskammer beklagt, dass viele Stellen gar nicht mehr besetzt werden könnten, die Leute deshalb mehr arbeiten sollten.
All das ist ein bisschen seltsam. Der Deal »weniger Geld und dafür mehr Freizeit« ist ja nun eine wirklich individuelle Entscheidung. Die fortwährenden Appelle, im Dienste der Allgemeinheit bitteschön mehr Zeit am Arbeitsplatz zu verbringen, erinnern ein bisschen an sozialistische Staaten: Da arbeiten ja gewissermaßen alle für alle, also sollen sich bitteschön auch alle gleichermaßen anstrengen.
»Liberal« ist an dieser Haltung dagegen rein gar nichts, denn sie stellt ja die Bedürfnisse der Volkswirtschaft über die des Individuums. Mehr noch: Sie stellt individuelle Entscheidungen als gemeinwohlschädlich infrage.
Die Deutschen sind keineswegs faul
Dazu kommt: Das Narrativ von den vermeintlich faulen Deutschen ist empirisch betrachtet falsch. Um die Fachleute vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zu zitieren: »So gab es seit der Wiedervereinigung mit knapp 46 Millionen nie mehr Menschen in Arbeit in Deutschland als heute. Und auch das Arbeitsvolumen der Beschäftigten, also die insgesamt geleisteten Arbeitsstunden pro Jahr, haben 2023 ein Rekordhoch erreicht.«
Lindners Forderung, Überstunden, also Mehrarbeit, steuerlich zu begünstigen, findet das DIW weltfremd, denn: »Basierend auf Daten des Statistischen Bundesamtes bekommen nur 18 Prozent der Beschäftigten, die in Deutschland Überstunden leisten, diese bezahlt.« In Deutschland schuften Arbeitnehmer also unentgeltlich mehr, als sie müssten, während reiche Menschen ihr Geld steuerfrei auf den Kaimaninseln oder in Panama parken. Das dunkle Geheimnis hinter dem Gejammer
Die Forderung nach einer Steuerbefreiung für Überstunden sei aus einer Vielzahl von Gründen »unsinnig bis kontraproduktiv«, so das DIW. Stattdessen solle man Kinderbetreuung ausbauen und Migrantinnen und Migranten besser in den Arbeitsmarkt integrieren.
Fakt: Deutschland überaltert, wie nahezu alle Industrienationen. Immer weniger junge Menschen müssen immer mehr Rentnerinnen und Rentner finanzieren. Zur Belohnung werden sie jetzt von Berufspolitikern angepflaumt.
Lösen lässt sich das, weil eine Steigerung der Geburtenraten offenbar schwierig bis unmöglich ist, nur mit gezielter Zuwanderung. Das aber findet beispielsweise die Union bekanntlich nicht so toll. Als diese Woche – endlich – ein Gesetz beschlossen wurde, das Einbürgerungen von Menschen, die hier leben und arbeiten, erleichtert und beschleunigt, reagierte die CDU sehr ungehalten und sprach von »weitreichenden negativen Folgen«.
Die Union verweist dabei gern auf die »Ostdeutschen«, die für schnellere Einbürgerungen kein Verständnis hätten. Auch die Menschen in Ostdeutschland möchten aber vermutlich gern eine Rente bekommen, wenn es so weit ist. Und in Wahrheit begegnen sie ziemlich selten Menschen mit Migrationshintergrund – über 94 Prozent davon leben nämlich in Westdeutschland und Berlin . Wir haben es hier nicht mit Besorgnis zu tun, sondern mit Rassismus.
Weil aber CDU und FDP so intensiv damit beschäftigt sind, beim Thema Zuwanderung der AfD nach dem Mund zu reden, sie also vorrangig als Problem zu beschreiben, traut sich das mit der Rente niemand so richtig laut zu sagen. Und die ultrareichen Großspender mit den Offshore-Briefkastenfirmen will man natürlich auch nicht vergraulen, also steht Steuervermeidung offenbar nicht so arg weit oben auf der To-do-Liste.
Und so schlägt man lieber noch ein bisschen auf die vermeintlich faule Jugend von heute ein. Das kommt auch bei den Rentnerinnen und Rentnern gut an, deren Stimmen man bei der nächsten Wahl wieder sehr gern hätte. Nutzen wird es nichts.
Die versuchen doch nur so das Rentenproblem zu lösen. Leider können sie das nicht so gut kommunizieren, deswegen muss ich hier jetzt grad mal einspringen.